K I L Y A S G E S C H I C H T E
Über Kilya könnte man erzählen, dass sie eine Sprachbehinderung hat und im Rollstuhl sitzt. Dass ihre Beine gelähmt sind und sich Hände und Gesichtsmuskeln unkontrolliert bewegen. Dass ein Knoten in ihrer Brust gefunden wurde, der Brustkrebs bedeutet. Das alles könnte man erzählen. Aber eigentlich soll diese Geschichte erzählen: Kilya ist eine unfassbar starke Frau.
Kilya wohnt in einer Einzimmerwohnung in einer fränkischen Vorstadtsiedlung. Auf einer kleinen Terrasse wachsen Basilikum und Rosmarin, durch die Glastüre gibt es einen ebenerdigen Zugang. Durch blaue Vorhänge fällt Licht auf eine große Sammlung von Halsketten, viele im indischen Stil mit bunten Steinperlen und silbernen Ornamenten. „Man darf auch mal eitel sein“, grinst Kilya, während sie die passende Kette zu ihrem Outfit an diesem Tag auswählt. Der Name Kilya ist ihr Künstlername als Lebenskünstlerin. Und das ist sie wirklich.
Tagsüber unterstützt ein Assistent oder eine Assistentin Kilya im Alltag, ansonsten lebt sie alleine und legt großen Wert auf Selbstständigkeit. Über einen der Assistenten habe ich Kilya auch kennengelernt und ihre offene Kommunikation war mir sofort sympathisch. Die Ursache für ihre Behinderung war eine Blutunverträglichkeit, die vor der Geburt nicht erkannt wurde. „Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Und wenn ich etwas nicht direkt annehmen kann, dann kämpfe ich“, erklärt sie mir ihr Strategie. Dass man ihr gegenüber Berührungsängste haben könnte, kann sie sich nicht vorstellen. „Mit mir muss man doch nicht vorsichtig umgehen!“, lacht sie.
Natürlich kommt es vor, dass jemand wegen ihrer Sprachbehinderung unsicher ist oder nicht weiß, ob er ihr mit dem Rollstuhl helfen soll. Für Kilya ist es dabei wichtig, direkt angesprochen und nach ihrer Meinung gefragt zu werden. Dass sie nur sehr langsam sprechen kann, hindert sie nämlich nicht daran, immer einen schlagfertigen Kommentar parat zu haben. Auch in ihrer Wohnung sind überall Schilder und Postkarten mit Sprüchen verteilt. „Der Mensch, der es allen recht gemacht, starb, bevor er geboren wurde“ und „Ich mag ja Sarkasmus, aber ‚Guten Morgen‘ ist echt übertrieben“ – Kilya hat den schwärzesten Humor, den man sich vorstellen kann. Der hilft ihr auch dabei, sich nicht vom Brustkrebs runterziehen zu lassen.
Als Kilya die Nachricht bekommt, ist für sie klar: Ich will noch ein letztes Foto von mir, dann lasse ich mir die Haare abrasieren. Keine leichte Entscheidung, denn Kilya hatte gerne Frisuren, hat sich mit den langen Haaren wohlgefühlt. „Aber ich wollte nicht zuschauen, wie die Haare langsam ausfallen“, erklärt sie.
Erst lässt sie sich einen Irokesenschnitt rasieren – noch einmal kurz Punk sein, bevor die Haare dann ganz abkommen. Als der Rasierer dann ein letztes Mal über ihre Kopfhaut fährt, muss sie schlucken: „Das sieht irgendwie nicht nach mir aus“. Auch wenn alle sagen, die Glatze stehe ihr sehr gut, für sie selbst ist es vor allem der Anfang im Kampf gegen den Krebs. Durch die Chemotherapie kann sie die Haare jetzt nicht mehr verlieren, das hat sie vorher schon selbst in die Hand genommen.
Von ihrer Krankenkasse bekommt Kilya eine Perücke, mit der sie sich wohler fühlen soll als mit der Glatze. Aber die graue Kurzhaarperücke ist ihr viel zu brav, zu spießig. Ihren ehemaligen Lieblingshut bräuchte sie jetzt, eine Art Matrosenmütze, die sie immer gerne getragen, aber irgendwann mal verloren hat. Deshalb nimmt sie sich ein Taxi zu ihrer Freundin Laura nach Würzburg, um sich von ihr eine neue Mütze anfertigen zu lassen. Die gelernte Modistin stellt in ihrem Atelier Kopfbedeckungen in den unterschiedlichsten Farben und Formen her.
Kilya schätzt Dinge, die mit Liebe hergestellt werden. Guter Schnaps aus kleinen Brennereien, hausgemachte Ravioli von ihrem Lieblingsitaliener oder selbstgebaute Möbel, wie die Holzwand in ihrer Wohnung, die ihr Bruder gebaut hat, um das Wohnzimmer vom Schlafzimmer abzugrenzen. So hat auch die handgefertigte Mütze besonderen Wert für sie und als sie die Maßanfertigung ein paar Wochen später das erste Mal aufsetzt, schaut sie sich endlich wieder gerne im Spiegel an.
Dass man durch Corona momentan wenig unternehmen kann, findet Kilya schade. „Man muss das Leben genießen“, ist eigentlich ihre Devise. Ob sie Angst hat, sich zu infizieren? „Ich habe schon etwas Angst. Aber mal ehrlich, hat nicht jeder ein bisschen Angst davor?“ Ihre sozialen Kontakte beschränkt sie momentan auf einen kleinen Kreis von Freunden und Assistenten und auch die frische Luft tut gut: Kilya fährt gerne mit dem Rollstuhl durch die Natur, egal wie holprig die Wege sind.
Inzwischen hat Kilya die Chemo hinter sich und macht eine Antikörpertherapie. Ob der Krebs dann endgültig besiegt ist, kann niemand ganz sicher sagen und an manchen Tagen kann sich der Optimismus nicht durchsetzen. „Es gibt glaube ich keinen Menschen, der immer optimistisch sein kann“, sagt Kilya. Sie versucht dann, sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihr schlecht geht, sondern bleibt lieber im Bett und schaut Märchenfilme.
Ein Büschel der abgeschnittenen Haare hängt immer noch neben ihren Schreibtisch und ist für sie Erinnerung und Motivation zugleich. Denn: Langsam, ganz langsam, fangen ihre Haare wieder an zu wachsen.